Eine schöne Bescherung

Über Nacht schneite eine weiße Weihnacht ins Paderborner Land hinein. Schon seit Tagen war es bitterkalt, der Schnee lag in diesem Jahr förmlich in der Luft, der Winter machte es aber spannend, wartete bis zum Morgen des Heiligen Abend, und Moritz staunte nicht schlecht, als sein Papa die Jalousien in seinem Kinderzimmer hochzog und ihm mindestens zehn Zentimeter Neuschnee präsentierte draußen im Garten ihrer Doppelhaushälfte in Upsprunge. Der vierjährige Stöpsel kannte den Schnee bisher nur aus Bilderbüchern und aus dem Fernsehen. Endlich konnte er den Winter auch mal hautnah miterleben. Die beiden Männer waren allein zu Hause, die Mama lag im Krankenhaus, in den Wehen, genauer wusste Moritz das auch nicht, nur, dass er bald ein Brüderchen oder Schwesterchen bekommen sollte. Und dass Papa dieses Jahr die Weihnachtskekse gebacken hatte, und die schmeckten ihm natürlich nicht so gut wie Mamas. Auf jeden Fall würden sie dieses Jahr Weihnachten daheim ohne die Mama sein müssen. Das stand schon so gut wie fest. Schuld war das neue Geschwisterchen. Sie würden sie aber im Krankenhaus besuchen gehen, wie in den letzten Tagen auch schon. Papa war unheimlich aufgeregt, hatte sich Urlaub genommen. Normalerweise flog er in der Weltgeschichte herum und war selten zu Hause. Er war Pilot bei der Air Berlin am Paderborn-Lippstadt  Airport, da war Moritz auch schon oft mit ihm gewesen. Moritz fand es Klasse, dass sein Papa jetzt immer da war. Und als er ihm an diesem Morgen den Schnee draußen zeigte und ihm versprach, mit dem Schlitten eine Schneewanderung, eventuell sogar eine Rodelpartie zu unternehmen, sprang der Junge ganz schnell aus seiner Koje und zog sich an. Moritz freute sich riesig und vergaß augenblicklich, dass die Mama im Krankenhaus lag. Aber Gott sei Dank war sie ja nicht richtig krank, nur kompliziert schwanger, das hatte jedenfalls der Doktor in seinem Beisein so gesagt. Gleich nach dem Frühstück ging’s los, sie zogen sich warm an, packten den Schlitten ins Auto und fuhren zum nahen Flughafen hoch. Dort konnten sie durch den Schnee stapfen und gleichzeitig einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen nachgehen, nämlich Flugzeuge starten und landen sehen. Moritz wollte später auch einmal Pilot werden wie sein Papa. Am besten fand er die Stelle, wo die Radroute ganz nah an der Rollbahn vorbeiführte und sie die Flieger aus nächster Nähe beobachten konnten. Vom abgestellten Auto bis dahin war es ein kleines Stückchen, und Moritz ließ sich von seinem Papa auf dem Schlitten durch den Schnee ziehen. Es hatte aufgehört zu schneien, ein paar blaue Fetzen am Himmel wurden sichtbar, die Sonne kam aber noch nicht richtig durch. Es sah eher nach noch viel mehr Schnee aus. Moritz ließ seine Füße wie zusätzliche Kufen eines Skibobs durch den Schnee gleiten, und je schneller Papa lief, umso höher wurde der feine Pulverschnee aufgewirbelt und wehte ihm ins Gesicht. “Schneller, Papa, schneller”, rief er und hatte einen Heidenspaß dabei. Sie hatten Glück. Gerade in dem Moment, als sie die Stelle des Radweges erreichten, wo sie über den Zaun auf die vom Schnee freigeräumte Start- und Landebahn schauen konnten, befand sich in der Ferne eine Maschine im Landeanflug und steuerte direkt auf sie zu. Erst konnte Moritz gar nichts erkennen, dann sah er das blendend hell aufblinkende Landelicht am Himmel und bald auch das Flugzeug, das immer größer wurde und schließlich auf dem Boden aufsetzte.“Eine gute Landung”, kommentierte sein Papa die Arbeit eines Kollegen, “die Maschine wird gleich über den Rollweg da vorn abbiegen zum Terminal hin.” Moritz hatte sich auf den Schlitten gestellt, um besser über den Zaun schauen zu können. Er sah das Flugzeug auf sie zuschießen, die Rollbahn endete keine hundert Meter vor ihnen, bevor das frische, spurenlose Schneefeld begann. Er konnte auch die Abzweigung erkennen, die sein Vater meinte und auf die er mit dem Finger gezeigt hatte. Nur dass das gelandete Flugzeug dort gar nicht abbog, aus welchen Gründen auch immer. Zum Stehen oder besser zum Liegen kam es erst in dem Schneefeld direkt vor ihrer beiden  Nasen. Und die Nase des Fliegers bohrte sich ein ganz klein wenig in den Schnee. Und dann ging alles ganz schnell. Die Türen des Flugzeugs öffneten sich, die Notrutschen wurden ausgefahren. Vom Flughafen brausten mit Martinshorn und Blaulicht zwei Feuerwehrautos herbei, während ein Passagier nach dem anderen wie auf einem hochfrequentierten Kinderspielplatz die Rutsche benutzten. Moritz’ Papa hielt seinen Jungen fest ihm Arm, sie wirkten wie gelähmt, standen wie Statuen neben ihrem leinenlosen Schlitten und starrten auf das havarierte Flugzeug vor ihnen. Sie sahen, wie Frauen, Männer und auch vereinzelte Kinder sich beeilten, aus dem Flieger in den kalten, feuchten Schnee zu rutschen, dann schleunigst aufstanden und das sichere Weite suchten. Im ungefährlichen Abseits bildete sich eine Menschengruppe im knöcheltiefen Schneebett, der Zulauf hörte noch längst nicht auf. Moritz war beeindruckt, so eine Flugzeugrutsche hätte er sicher auch gern mal ausprobiert. Sein Papa schaute eher beängstigt drein, erkannte aber auch schnell, dass es sich hier nur um einen wahrscheinlich eisglättebedingten kleinen Ausrutscher handelte. Dann geschah plötzlich noch etwas, mit dem beide nicht rechnen konnten, und was den kleinen Moritz förmlich aus dem Häuschen brachte.

“Papa, schau, da ist ja auch der Weihnachtsmann drin. Kommt das Flugzeug aus dem Himmel?”

“Kann man wirklich nicht anders sagen, mein Sohn. Dieses Flugzeug samt Weihnachtsmann kommt im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Himmel.”

Als einer der letzten Passagiere schoss ein Weihnachtsmann mit schneeweißem Rauschebart, Bömmelmütze und rotem Mantel, schwarzen kniehohen Stiefeln und einem dunkelbraunen, prallgefüllten Jutesack auf dem Rücken die Notrutsche herunter und gesellte sich zu den anderen. Wie Moritz’ Papa hinterher erfuhr, war das ein verkleideter Steward, der den Fluggästen zum Abschied und als weihnachtlichen PR-Gag kleine Geschenke zum Ausstieg überreichen sollte. Papa und Sohn beobachteten noch, wie dieser Weihnachtsmann ganz spontan und zur allgemeinen Beruhigung in sicherer Entfernung seinen Job ganz einfach zu Ende ausführte. Er kramte die kleinen Präsente aus seinem Sack und verteilte sie unter den geretteten Fluggästen auf offenem Schneefeld. Als Moritz später an diesem Heiligen Abend im St. Josefs-Krankenhaus zu Salzkotten seiner Mama diese Geschichte von der ungewöhnlichen Bescherung auf dem Rollfeld des Paderborn-Lippstadt Airports erzählte, setzten bei ihr sofort die Wehen ein, und wenige Stunden später brachte sie ein wahres Christkind zur Welt und Moritz hielt sein Schwesterchen endlich in den Armen, eine wirklich schöne Bescherung!

 

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© Autor Wolfgang Pache