Halbwahr, halbgar, aber immer ganz nah an meinem schönen Leben!
Heute ist Aschermittwoch, die Narren werden wieder angebunden, ab jetzt wird es wieder ernst. Aus religiösen Sichten beginnt die Fastenzeit. Ein Radioreporter haute mir eine Neuigkeit aus dem Äther um die Ohren, da staunte ich Bauklötze, so viel Kreativität hätte ich den alten Knochen in den Kirchen unserer Länder gar nicht zugetraut. Am Aschermittwoch ist es Brauch, dass sich die Schäfchen von ihren Hirten eine Art abgekühltes Brandzeichen abholen, der Priester streut sozusagen Asche auf das Haupt der aber und aber (Millionen) Gläubigen in Form eines Kreuzes aus Asche auf die Stirn. Sie wissen schon, Asche zu Asche, Staubkorn zu Staubkorn...ab jetzt wollen wir uns bessern, wir armen Sünder, die Hoffnung stribt zuletzt! Nur hat der liebe Gott ja nicht mit Corona rechnen können. Da müssen auch die Hirten den Mindestabstand zu ihren Schäfchen einhalten. Die Frage war nun: wie kriegen die hohen Herren kontaktlos und mit Ab- und Anstand die Asche auf die Schädel ihrer Liebsten? Und da hat der Radioreporter erzählt, dass heute ein ganz besonderer Startschuss fällt, was den Aschekreuzsegen betrifft. "Aschekreuz to go", heisst die kreative Maßnahme der Kirchenobrigkeit. Auf den Kirchplätzen der christlichen Welt sollen Aschekreuze mit einer besonderen Fieberthermometerpistole auf die Stirn der Gläubigen geschossen werden. Augen zu und drauf! Diese im Vatikan entwickelte Schusstechnik ist zu hundert Prozent wirksam und zielgenau bis auf drei Meter. Tut auch nicht weh! Der Laserstaubstrahl hinterlässt ein konturenscharfes Aschebild auf der Stirn des Gläubigen. Die Infektionswahrscheinlichkeit mit Coronaviren ist gleich null. Es gibt sogar eine Schnellfeuerfieberthermometerpistole für den Fall, dass sich Warteschlangen auf den Kirchplätzen bilden. Dann rattert der Priester einfach an der Schlange entlang, und zack sind alle Bedürfigen kreuzgeascht und fühen sich fit für die lange Fastenzeit, bis der Osterhase kommt. Diese besondere Kreuzaschung kostet auch nicht viel, sagt der Radioreporter, fünf Euro pro Schäfchen wäre ok. Also macht die Kirche mit der Kreuzpistolenaschung auch noch richtig Asche. Wundert mich nicht bei dem Marketing-Slogan: Asche zu Asche...
Als gedruckte Wörter zustellendes Nachtlicht begegnete ich jüngst Elvis Eifel. Das ist der mit der Verstehen-Sie-Spaß-Nummer am Radio-Telefon. Es war so bitterkalt (Minus 21,5 Grad), so ein bißchen Aufwärmung in der Seele würde mir gut tun, dachte ich. Opfer in Sichtweite, Abonnent ließ vor der Tür Auto warm laufen, Scheiben entfrosten. Er kam mir entgegen und wollte mir die Zeitung aus der Hand reißen, aber nicht mit Evis Eifel...
"Können Sie sich ausweisen, dass Sie hier wohnen?"
"Das ist doch mein Auto hier..."
"Das könnten Sie ja auch klauen wollen..."
"Aber, ich bitte Sie...das ist mein Haus.."
"Wirklich schon abbezahlt?"
"Ja...aber.. das heisst,eine kleine Restschuld..."
Ich ging zielstrebig an ihm vorbei auf den Briefkasten zu, halte die Zeitung hoch in die Luft, wedele ihm eiskalte Luft damit zu, deute an, dass ich sie jetzt in den Kasten stecke.
"Sicherheitshalber..., ich darf sie Ihnen nicht geben, es sei denn, Sie können sich doch noch ausweisen..."
"Das ist ja lächerlich, das sieht man doch, dass ich hier wohne..."
"Kennen Sie denn wenigstens Ihr Passwort?"
"Was denn für ein Paßwort?"
"Von Ihrem E-Zeitungszugang..."
"Haben wir doch gar nicht...."
"Dann die Parole!!"
"Was für ne Parole?"
"Den Vornamen Ihres Hundes..."
"Wir haben keinen Hund.."
"Warum nicht?", fragte ich beim Einsteigen zurück ins Zustellfahrzeug. Da steckte die Zeitung schon im Briefkasten, und durch die offene Autofenster rief ich ihm beim Weiterfahren zu:
"Rühren Sie bloß nicht die Zeitung an, es sei denn, Sie wohnen hier..."
Das glaubt mir keiner, aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leibe gefühlt: tonnenweise Schnee und eisige Kälte stürzten über Nacht in mein Arbeitsleben. Und das kurz vor dem Frühlingserwachen, jedenfalls meinem gefühlten und erhofften. WINTEREINBRUCH! Heute nacht vom 8. auf den 9. Februar 2021, habe ich bei (MINUS) -15,5 Grad für das Überleben der Zeitungen gekämpft und für mein eigenes. Nicht auf dem Fahrrad versteht sich, sondern auf Langlaufskiern. Zugangstreppen, Zäune, alles mit Schnee bedeckt, wirklich meterhoch aufgetürmt. Ich spurte die Zustellloipe von Briefkasten zu Zeitungsrolle, zog den Lastschlitten mit den neusten Nachrichten auf Papier durch den Schneesturm, als sei ich wie einst Reinold Messner auf Expeditionsreise in der Antarktis. Eiszapfen wuchsen mir aus der Nase, eine neue Haut aus Schnee schichtete sich an mir auf, meine Hände drohten mir abhanden zu kommen, gefühlsmäßig. Immer wieder feuerte ich mich an: Halt durch John Meinard alias Fontanes Steuermann auf dem brennenden Schiff, oder Quasselkasper sprach zu mir, das gedruckte Wort, die Papierzeitungen dürfen nicht aussterben. Der Abbonnent ist König, die heilige Frühstückszeit naht, der Tisch ist opulent gedeckt, da gehört die Tageszeitung hin, da fühlt sie sich zuhause. Ich ziehe die letzte Zeitung meines Zustellbezirkes aus dem Zeitungsköcher auf dem Rücken, quetsche sie schlecht gefaltet durch den viel zu engen Briefkastenschlitz, höre noch, wie sie drinnen auf den Flurboden fällt. Mein Kampf ist gekämpft, völlig entkräftet sinke ich hernieder, aber glücklich: Die Zeitung lebt weiter! Ich auch, man findet mich rechtzeitig. Durchgefroren, aber noch nicht schockgefrostet. Ich taue gerade wieder auf. Nur das gedruckte Wort zählt. Oder doch das gelesene?
Neulich, als wir im Auto unterwegs waren Richtung Bielefeld, um das wöchentliche Enkelinnenbad zu nehmen, rauschten wir voll in eine Demo, das haben wir auf jeden Fall gedacht. An einer vielbefahrenen Straßenkreuzung in der Nähe von Steinhagen reihten sich an den Straßenrändern Werbereiter, Transparente, Plakate und Schilder aneinander, mittendrin direkt auf der Verkehrsinsel bewegte sich eine Litfaßssäule auf Beinen hin und her. Es war ein älterer Mann mit Rauschebart und wildem Haarwuchs, der sich mit Werbeplakaten vollgehängt hatte. Erst hatte ich ihn für einen Verkehrspolizisten gehalten, aber die Ampeln funktionierten doch, konnte also nicht sein. Rot- und Grünphasen wechselten sich ab, wir kamen in der Warteschlange gut voran, und vor allen Dingen dieser Einmann-Demo immer näher. So nahe, dass wir endlich die Botschaften lesen konnten. DIE RETTUNG IST NAHE, konnte ich lesen. Welche Rettung? Die vor der Pandemie? Die Rettung vor der Klimakatastrophe? War das vielleicht ein Opi for Future, dachte ich so. JESUS IST DAS LICHT, ach so, jetzt war mir alles klar: ein Zeuge Jehovas auf Missionsdemo, ein Baptist mit übersteigertem Missionseifer. Ob er diese Demo angemeldet hatte? Bestimmt nicht. Ich übertreibe nicht: in alle vier Fahrtrichtungen auf beiden Straßenseiten standen Werbereiter mit Hiobsbotschaften und die dazugehörigen Rettungsparolen: JESUS ERLÖST EUCH VON ALLEN SÜNDEN...Auf dem kleinen Parkplatz abseits der Kreuzung entdeckte ich den Bulli zu den vielen Werbereitern und Schildern, natürlich auch zugetextet bis unter das Dach: NUR EIN LEBEN NACH DEM TODE IST ERLÖSUNG. Dieser OPI FOR JESUS macht sich doch lächerlich, sagte ich zu meiner holden Gattin neben mir auf dem Beifahrersitz, mach doch mal ein Foto, das glaubt uns keiner. In diesem Moment springt die Ampel auf GRÜN, ich muss weiterfahren, ziemlich nahe an dem Einzeldemonstrant vorbei, und da lese ich auf seinen Schildern, die er sich wie einen ärmellosen Regenmantel umgehängt hat: GOTT IST GROß! Und dann gab ich einfach nur Gas, Vollgas, wenn ich so was lese, setzt bei mir der Fluchtinstinkt ein. Die Selbstmordattentäter rufen doch immer: ALLAH IST GROß, bevor sie sich und andere mit in die Luft jagen, habe ich gelesen. Im Rückspiegel erkannte ich ein großes Transparent zwischen den Laternenpfosten, selbst in Spiegelschrift zu leicht zu lesen: EIN LEBEN NACH DEM TODE IST ERFÜLLUNG. Oh Gott, denke ich, nichts wie weg hier. Bei religiösen Fanatikern sehe ich Rot. Ist aber alles im grünen Bereich geblieben. Am Abend dann, als wir heimfuhren über die gleiche Kreuzung, war alles noch heile und die Einzeldemo aufgelöst. Na, GOTT SEI DANK!
Heute ist Nikolaustag. Ich mache mich auf die frühe morgendliche Gassirunde mit unserem Dackelpinscherjackrusselmix. Ich habe meine Schuhe gestern abend nicht raus gestellt, nur in die Garage, ans Waschbecken, zum Saubermachen. Voll in die Hundekacke getreten...Da es nieselt, ziehe ich diese bek(n)ackten Schuhe an, laufe über Feld und Flur, durch Pfützen und über Gras, will mich und die Schuhe freilaufen. Klappt auch ganz gut. Dann drehe ich noch einen Schlenker durch unsere Siedlung, die noch verschlafen da liegt. Die ersten Brötchenhol-SUVs fahren an mir vorbei, es bildet sich eine Corona-Warteschlange vor der Bäckerei-Filiale einer ortsansässigen Backwarenkette. Eine Straße weiter kommt mir ein Päarchen entgegen, Mann und Frau nebeneinander auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig, etwas älter schon, aber noch keine Senioren. Sie schweigt und geht kopfrunter an uns vorbei, er raucht und bläst genüßlich seinen Lungenzug hinaus. Etwa auf meiner Höhe nimmt er einen tiefen letzten Zug und schleudert die Kippe hinter sich in die Gosse. Ich koche innerlich wie äußerlich, es ist neblig, meine Brille beschlägt, aber ich habe es gesehen. Wie oft habe ich das schon mit angesehen und geschwiegen, es in mich hinein gefressen. Ich treffe eine für mich kühne Entscheidung, mein Hund wundert sich, dass ich plötzlich stehen bleibe, einige Schritte gar zurück laufe und den Umweltverschmutzer und Dreckspatz (Drecksack) freundlich anspreche:
"Hallo, entschuldigen Sie, darf ich Sie etwas fragen...?"
Das Päarchen stoppt, wendet sich zu mir um, nichtsahnend, in freundlicher Aufmerksamkeit.
"Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ihre Kippe aufhebe?"
"Wie bitte?"
"...ob ich Ihre Kippe, die Sie gerade in die Gosse geworfen haben, aufheben darf?" brülle ich ihm so laut entgegen, dass er es nicht überhören kann.
Die Ironie in meiner Frage verschlägt ihm die Sprache, schweigend wendend er sich ab, und beide gehen ihres Weges weiter. Auf jeden Fall hat er mich verstanden, da bin ich ganz sicher, bestenfalls denkt er darüber nach, ob er seine Kippen nicht doch daheim im Müll selbst entsorgen soll, oder ob er vielleicht ganz mit dem Rauchen aufhören sollte... Auf jeden Fall bin ich stolz auf mich, dass ich nicht geschwiegen habe. Ich finde, das Wort muss man dem anderen gönnen dürfen. Ich und mein Hund und er und seine Frau gehen weiter unserer Wege in entgegengesetzte Richtungen, ich werfe einen letzten Blick auf die Kippe in der Gosse, die noch glimmt. Ich hebe sie natürlich nicht auf wie die zig anderen, die dort herumliegen und vergammeln und meinen Blick auf dem Ende unserer Gassirunde magisch anziehen. Ich räume doch nicht den Dreck anderer Leute weg, hab mit meinem eigenen schon genug zu tun. Ich bin ja so stolz auf mich, dass ich den bösen Nikolaus rausgekehrt habe. Vielleicht hätte ich auch den Knecht Ruprecht spielen sollen, ihm mit der Hundeleine ein paar übergezogen, bis er die Kippe aus der Gosse freiweillig aufgesammelt hätte und zur Strafe mindestens zehn andere mit. Aber ich bin ja ein friedliebender Mensch.
Heute morgen hatte ich eine Erscheinung, kurz vor Sonnenaufgang, genauer, eigentlich während die Sonne plötzlich aufging, und das kam so: ich war wieder als Kreativknipser unterweges, also immer Augen auf und gucken nach dem besonderen Augenblick. Die Gruppe Pferde mit besonders langer weißer Mähne vor der Baumgruppe in der Koppel (die Rasse kann ich nicht genau benennen, vielleicht Harflinger sagt Google) erschien es mir wert, fotografiert zu werden, besonders bei diesen noch zarten Lichtverhältnissen des noch so blutjungen Tages. Ich machte den Knipsapparat fertig und fokussierte mein Motiv, und zack, erschien mir Gott, nicht im Dornenbusch sondern im Blattwerk der Baumgruppe. Ich dachte wirklich: da ist er endlich und zeigt sich mir mal, versteckt in einem Feuerball, so hell und blendend, dass ich ihn gar nicht richtig sehen konnte, habe mich nicht getraut, genau reinzuschauen, aber voll erschrocken, wie ich so plötzlich geflasht wurde. Das konnte nur Gott sein, so stellte ich mir eine Gotterfahrung vor, so wird es vor Urzeiten gewesen sein, die Menschen, die so etwas erlebten, gingen nach Hause und erzählten allen, Gott wäre ihnen erschienen, der Erlöser auf die Welt herab gestiegen, und zack, glaubten fortan alle an Gott und verehrten und verherrlichten ihn ein Leben lang. Die Gruppe Pferde ließ sich gar nichts anmerken, die hatten die Sonne und die Bäume ja auch im Rücken, die konnten Gott gar nicht sehen, wäre ihnen wahrscheinlich auch Wurst gwesen, ein Gaul schiß sogar drauf. Gut dass ich nicht so leichtgläubig bin, aber im ersten Moment dachte ich wirklich, die Bäume brennen, als seien es die legendären Dornenbüsche mit Moses und so. Als ich zwei Schritte nach rechts trat, war der Spuk auch schon wieder vorbei, das Blendwerk zu Ende, zwei Knipser gegen das Sonnenlicht nahm ich noch mit nach Hause...
Es waren eindeutig Schüsse, die in der letzten Nacht fielen. Und ich war definitiv zu nah dran als Nachtjobber. Kurz nach drei Uhr früh waren mir hier in dem beschaulichen Dörfchen Niederntudorf schon zwei erwachsene Jugendliche auf ihrem Moped begegnet, die Nacht war nicht mehr kalt, sie standen an ihrer Enduro-Crossmaschine herum, die Helme auf dem Bock, und rauchten und ließen wohl eine private Partynacht ausklingen, trotz Corona-Zeiten, dachte ich so. Nichts Besonderes für einen Zeitungszusteller, besoffene Partyheimkehrer kamen häufig vor. Etwa eine halbe Stunde später und und ich etwa tausend Schritte weiter, fielen die Schüsse, kein Schußwechsel, aber laut und deutlich Schüsse, und Gott sei Dank (noch) keine Einschläge in meiner Nähe., dachte ich noch so. Nach meiner Einschätzung etwa kamen die Schüsse aus dem Bereich, wo ich die Nachtschwärmer wahrgenommen hatte. Ich stellte meine Lauscher auf sensibelsten Empfang und entsicherte schon mal mein Pfefferspray in meiner Hosentasche. Eine andere Verteidigungswaffe für den Ernstfall hatte ich nicht dabei, gut, eine mittelgroße Schere noch zum Aufschneiden der Zeitungspakete, aber eher was für den Nahkampf kurz bevor man erwürgt wird. Dann wieder zwei Schüsse, diesmal hörten sie sich noch lauter an. Der oder die Schützen kamen mir näher, rückten mir auf den Pelz. Mir begann die Düse zu gehen. Schnell fuhr ich auf meinem Zustellbike von Zeitungsrolle zu Zeitungsrolle. Fluchtinstinkt, aber schon bald verlangte die Zustelltour meine Flucht nach vorn, sprich den Tudorfer Westernhelden entgegen. Wieder fielen zwei Schüsse, hörten sich Gott sei Dank entfernter an, aber eindeutig kamen sie von dort, wo ich noch hin musste mit meinen "scheiß" Zeitungen, wer ballert da bloß rum, dachte ich so. Und wieder tönten zwei Schüsse durch die Nacht. Jetzt hatte ich endgültig die Faxen dicke, forderte mit "110" Verstärkung an, weil Polizei ja mein Freund und Helfer in der Not, und in der fühlte ich mich definitiv. Ich erläuterte dem Notdiensthabenden die Lage, gab meine Positionsdaten durch, Viertelstunde sei man vor Ort. VIERTELSTUNDE!?!? Diese Reaktionszeit gefiel mir gar nicht. Und dann wurde es für mich bald ganz eng: ein Riesenkracher und gleichzeitig klirrte eine Fensterscheibe keine fünfzig Meter von mir entfernt. Kamp 19 in Niederntudorf, ein ZEIT-Abbonnent. Gut dass ich mich in Tudorf so gut auskannte, jeden Schleichweg, ich schlich mich hurtig von dannen über den Kellerberg auf den Lohweg und hinauf nach Oberntudorf, Bergwertung auf meinem Ebike gewonnen! Ein Polizeiauto mit Blaulicht und Martinshorn kam mir entgegen. Wie ich in einer meiner Zustellzeitungen in der kommenden Woche lesen konnte, hatte die Polizei in der Nacht von Freitag auf Samstag zwei betrunkene Jugendliche aus Haaren festgenommen, die mit der Jagdpistole des Vaters in Niederntudorf rumgeballert und erheblichen Sachschaden angerichtet hatten. Fast hätten sie einen Zetungszusteller getroffen, stand da geschrieben. Ich war etwas beruhigt, weil die Schüsse in der Nacht folglich nicht persönlich gemeint waren, also kein Psychopath, der was gegen die Pressefreiheit unternehmen wollte oder sauer war auf Zeitungszusteller, die mit dicken und lauten SUSs die Zeitungen rumbringen. Und ich darf weiter auf ruhige Zustellnächte hoffen!
Als Nachtjobber und Zeitungszusteller zur besonderen Verwendung sieht man ja nicht gerade vertrauenserweckend aus, mit Sturmhaube, Fahrradhelm und Stirnleuchte arbeitet man sich durch tiefste Dunkelheit und hofft darauf, sich böse Geister und begeisterte Böse vom Leib zu halten. Dass so ein praktisches Outfit auch andere Nachtschwärmer anlockte, passierte jüngst in einer einzigen Nacht gleich zweimal. Ins Schwärmen kann man da aber nicht kommen als Zeitungsbote, das war eher was zum Fürchten.
Schon auf dem Hinweg im Auto lief dem armen Mann aus dem Niederiglohnsektor unheilversprechendes Getier über den Weg: weiße Mäuse waren nachtaktiv. Blaulicht und Martinshorn und ein Blinklicht im Heckfenster "Bitte folgen...Bitte folgen..Bitte folgen!" bremsten unseren Nachrichtenboten aus. Zwei uniformierte Polizsten sprangen heraus, postierten sich um das Zustellfahrzeug und leuchteten den Innenraum aus, die freie Hand jeweils an der Dienstwaffe im Holster. Einer schrie viel zu laut und ziemlich nervös:
"Bleiben Sie, wo Sie sind. Lassen Sie Ihre Hände am Lenkrad..."
Der Zusteller tat, wie ihm befohlen, rührte sich nicht in seinem Fahrersitz, bis die Tür aufgerissen wurde und man ihm befahl auszusteigen. Er verhedderte sich im Anschnallgurt, mit einem Fuß schon draußen, drohte gar sein Auto ihm unter dem Popo wegzurollen.
"Ziehen Sie Ihre Handbremse an, Mann!"
Es dauerte eine Weile, bis der Zeitungsmann am Auto stand mit Gesicht zum Auto, die Beine gespreizt und die Hände auf dem Autodach.
"Allgemeine Fahrzeugkontrolle. Ihre Papiere bitte!"
"Habe ich nicht bei..."
"Können Sie sich ausweisen?"
"Nein, tut mir leid. Ich kann Ihnen nur meinen Namen nennen."
"Was machen Sie hier mitten in der Nacht? Mit der leuchtende Stirnlampe im dunklen Auto machen Sie sich sehr verdächtig..."
"Ich soll hier Zeitungen verteilen. Vorher wollte ich aber noch die Volksbank da vorn ausrauben und in ein paar Wohnungen einbrechen. Brauche Kohle..."
"Wollen Sie witzig sein, Mann? Können Sie beweisen, was Sie behaupten?"
"Ich kann Ihnen eine Zeitung geben...Habe reichlich an Bord. Welche hätten Sie denn gern? Die Rote oder die Grüne? Meine Kontoauszüge kann ich Ihnen zeigen...."
"Warum haben Sie kein Nummernschild an Ihrem Fahrradanhänger?"
"Ist gestern abgefallen. Liegt bei mir zuhause in der Garage. Kommen Sie mit, kann ich Ihnen auch gern zeigen..."
"Der TÜV ist auch abgelaufen letzten Monat..."
"Hab schon einen Werkstatttermin nächste Woche. Die Werkstatt kann das bezeugen, rufen Sie an, SCHRAUBERLAND Salzkotten..."
"Sie nerven, Mann!"
"Kann ich jetzt weiterfahren, ich muss bis sechs Uhr meine Zeitungen bei den Leuten im Kasten haben..."
"Der hat sie doch nicht mehr alle im Kasten", flüsterten sich die beiden Beamten zu. Sie müssen wohl Mitleid mit dem armen Zeitungsmann bekommen haben, jedenfalls ermahnten sie ihn nur, kein Verwarnungsgeld, nur Zeitverlust auf beiden Seiten. Und jetzt kommt aber der Hammer. Auf dem Nachhauseweg in Feld und Flur in dem kleinen Ortsteil Bosenholz mit den schmalen Arbeitswegen begegnete unser Zeitungsbote etwa zwei Stunden später erneut einem Polizeiwagen, der wohl noch immer auf Gansterjagd war. Diemal kamen sie von vorn, blockierten die Weiterfahrt, sprangen aus ihrem Fahrzeug mit gezogener Pistole, richteten diese auf das Zustellfahrzeug und einer brüllte: "Aussteigen mit erhobenen Armen...!" Es waren die gleichen Beamten wie vor Stunden, der Zeitungsmann erkannte sie sofort wieder. Er rief Ihnen entgegen:
"Hey, ich bins nur, Euer Zeitungsmann. Immer noch auf Verbrecherjagd?"
"Fahr endlich nach Hause, Mann!"
Das tat der Mann. Am nächsten Tag konnte er in der Zeitung lesen, warum die Polizisten so überreagierten: Aus der Vollzugsanstalt in der Nähe von Büren war ein mehrfacher Mörder ausgebrochen. Inzwischen hatte man ihn aber wieder eingefangen, bestimmt die beiden hochmotivierten Polizsten aus der Nacht, dachte er. Gut für unseren Zeitungsmann, er durfte wieder auf ruhigere Nächte hoffen...
Ich komme gerade rein, die Zustellnacht hatte es in sich, ich sag' euch, ich habe jetzt noch zittrige, weiche Arme und Beine, muss ich wirklich nicht jeden Tagen erleben. Schied Wetter, das volle Programm, Regen, Hagel, Kälte, Sturmböen, an eine entspannte Zustellung per Pedes war nicht zu denken. Also rein ins Auto, Stop and Go, Augen auf und durch. Scheiben beschlagen, Brillengläser auch, Tröpfenchenbildung, klare Sicht ist definitiv was anderes. Und die Wohngebiete werden auch immer enger gebaut. Ich immer schnell rein, raus, Zeitungen rein in die Röhre, Gang rein, Gang raus, Handbremse ziehen, und wieder lösen. Es gibt Ecken, da kann ich mit einem Stop mehrere Briefkästen schnell und praktisch bedienen, Motor läuft weiter, manchmal lasse ich sogar Fahrertür offen stehen, weil schnell rein, schnell raus. Bin auch in Bergstraßen unterwegs, abschüssig, Gefälle gefällig oder auch nicht. Und jetzt kommt's, hört zu, bin fast fertig gewesen, in der Nähe des Bahnhofs im Ortsteil Scharmede, die Jugedlichen begegnen mir schon auf dem Schulweg. Ich stelle mein Auto ab, alles wie immer, raus an die Briefkästen, neuer, unbekannter Zustellbezirk, Zeitungen auf dem Arm, gehe weiter weg vom Auto als geplant, einige Momente ausser Sichtweite mein Zustellauto, komme zurück, biege um die Kurve, höre wegrennende Schritte und ein Geräusch nicht weit weg, als würden Dachziegeln vom Dach fallen und auf dem Asphalt zerspringen. Ziehe automatich den Kopf ein, will schnell ins Auto springen, aber Auto nicht mehr an seinem Platz, wie weggebeamt sozusagen. SCHOCKMOMENT! Und jetzt der Hammer: Sehe, wie es in der Einfahrt eines Hauseigentümers steht gegenüber von dem von mir bestimmten Parkplatz, zwei Millimeter neben dem Auto des Hausbesitzers Beifahrerseite, die Fahrertür noch auf und halb an einer Hecke hergeschrammt, aufgehalten vor dem Eindringen durch die Haustür in den Flur nur durch eine erhöhte Treppenstufe und einen Blumenkübel, der aber zu Bruch ging durch seichten Kontakt mit der Stoßstange meines Autos. Keine Dachziegel also sondern andere Tonscherben, die mir in den Ohren geklingelt haben. Zähle eins und eins zusammen, Wahrscheinlichkeitsrechnung aufstellen, diese Lausbuben haben mal eben im Vorbeigehen an der offenen Wagentür die Handbremse gelöst und dann das Weite gesucht (das Auto sich eine Parklücke), ein autonomes Fahren bzw. Rollen ausgelöst mit automatischem Parkassistenten. Und die zurückgelegte Strecke dabei überschlage ich schnell mit etwa fünf bis zehn Metern, mein lieber Specht, und das Gefälle hielt sich Gott sei Dank in Grenzen, Punktlandung würde ich sagen, das hätte auch anders ausgehen können. Besser und genauer hätte das Auto auch mit mir am Steuer nicht einparken können. Ich springe schnell hinter das Lenkrad, setze zurück und dann nichts wie weg. Ich will ja keine schlafenden Hunde wecken, alles gut, nichts passiert. Scherben bringen Glück, und ich denke, dass mit dem autonomen Fahren ist keine schlechte Sache. Das kann was werden!
Jetzt ist es amtlich, genehmigt von offizieller Seite, sprich Arbeitgeberseite, rechtlich abgesichert durch Fixierung in den AGBs, dass wir nachtjobbenden Zeitungs(b)engel die Tageszeitungen auch hinter die Scheibenwischer der Autos klemmen dürfen, wenn uns der Zugang zu den Briefkästen der Abonnenten durch unzumutbare Begebenheiten vor Ort verwährt wird. Man muss nämlich wissen, dass das Zeitalter der einfachen Zweitwagenmentalität längst vorbei und das der Fuhrparkmanie angebrochen ist. Ich nenne das auch gern den Motorisierungswahn. Was da in der Nacht und noch am frühen Morgen vor den schmucken Häusern der Zeitungsabonnenten unserer Gegend in den Ein- und Zufahrten, im Hof und gar auf zusätzlichen Stellplätzen im Vorgarten an Fahrzeugen rumsteht, hat mit der Sicherung der eigenen Mobilität wenig zu tun. Nicht selten, ich quetsche mich jede Nacht durch sie hindurch als Zusteller vom Dienst, umfassen die Fuhrparks von ganz normalen Familien folgende Fahrzeuge: ein Familien-SUV für das Familienoberhaupt, ein Mittelklassewagen der Frau, ein Kleinwagen für die Tochter, einen für den Jungen. Unter dem extra gebauten Carport steht das Wohnmobil, wohlgemerkt steht, und zwar lange und ausdauernd. Und das ist auch noch so lang, dass es gerade mit der Straße vorn abschließt, mich auf meinem Fahrradzustellweg fast geschmissen hätte, und immer neustes Design und auf Hochglanz poliert. Da ist man früher, als man noch jung war, sicher ein- bis zweimal in zwanzig Jahren mit in den Urlaub gefahren. Weil alle ja diese Nähe zur Natur lieben beim Camping, den Traum vom kernigen Naturburschen gibt man nicht so gern auf, auch wenn man älter wird und so einer muckeligen Ferienwohnung mit Dusche und WC und Großformatfernseher und Kamin und Abhängpolstergarnitur doch irgendwie nicht widerstehen kann. Wenn man wenigstens die überall vorhandene Garage für die Unterstellung eines Fahrzeugs aus dem Fuhrprk benutzen könnte, könnten wir Nachtjobber die Zeitungsrollen sicher viel häufiger und unter zumutbaren Umständen erreichen. Entweder sind die Garagen komplett zugemüllt oder darin stehen zwei Motrorräder (eine Sportversion und ein Chopper), ein schicker E-Roller und mindestens vier E-Bikes herum und warten auf ihren Einsatz, die Mountainbikes nicht zu vergessen. Gern wird auch noch ein PKW-Anhänger vor dem Haus abgestellt, damit man Kaminholz-Schnäppchen schlagen kann. Und vor den Anwesen noch betuchterer Zeitungsabonnenten versperren dann sogar aufgemöbelte Oldtimer und sündhaft teure Cabrios den Zugang zu den Briefkästen. Manchmal stehen so viele Autos vor den Häusern rum, dass ich denke, oh, wahrscheinlich Taxiunternehmen oder Kuriesdienst, wenn keine Nummernschilder an den Autos zu erkennen sind, wahrscheinlich ein privater Autodurchschubser, der mal schnell ein paar Euros nebenbei verdienen willl. Gut dass ich mich darüber nicht mehr aufregen muss, sind sie ja selbst schuld, wenn ihre Zeitung hinter dem Scheibenwischer bei Schlechtwetterlage nass wird. So viel Auto muss ja wohl wirklich nicht sein, wie sollen wir bloß den Klimawandel in den Griff kriegen bei diesem Mobilitätswahn da draußen.
Zum Schluss noch zwei Beispiele für die Fuhrparkmanie und den Autowahn der Zeitungsabonnenten, und auch der Zeitungsabonnentenverweigerer, versteht sich: in Niederntudorf stehen Nacht für Nacht zwei dicke silberne Mercedeslimousinen und ein sportliches Silberpfeilcabrio mit fast identischen Nummernschildernvor der Tür eines Hauses, nur die letzte Zahl ist darauf unterschiedlich. Man glaubt es kaum: drei dicke Schlitten vor der Tür, aber das Törchen zum Eingang für uns Zeitungszusteller ist verrostet und schleift über den Boden, wie oft habe ich mir daran schon die Kniescheibe gestoßen, weil ich zu schnell unterwegs war. Unzumutbar, eindeutig, Zeitung klemmt in Zukunft nur noch hinter einem der sechs Scheibenwischer. Und dann gibt es in Thüle noch einen Abonnenten, da nimmt das Luxuswohnmobil die gesamte Hauseinfahrt ein, rückwärts eineparkt, Meisterleistung weil Milimeterarbeit! ich quetsche mich jedes Mal an der Hauswand entlang zum Briefkasten, scheuere mir meine gute, atmungsaktive Zustelljacke kaputt. Auch das unzumutbar ab sofort, Gott sei Dank. Zack, Zeitung unter den Riesenwischer, komme ich gerade noch so dran. Gut dass der rückwärts eingeparkt hat! Schwer einzusteigen, schwer rauszukommen. Na ja, fahren wird er damit wohl sowieso nicht...
Gestern auf dem Weihnachtsmarkt in Paderborn, Fußgängerzone, im kleinen Kreis ein rumänischer Installationskünstler, darin ein bunter Kreis aus Straßenmalkreide im Durchmesser von etwa drei Metern, und darin lauter kleine Kreise mit den bunten Flaggen und in den Nationalfarben der Länder dieser Welt. Multi-Kulti auf hartem, kalten, winterlichen Asphalt bei uns in Paderborn, schön anzusehen, herzerwärmend, viele fühlten sich wie ich angezogen, auf den einzelnen Nationalflaggen sammelten sich Geldmünzenhäufchen.
Auf das Häufchen Elend stieß ich hundert Meter weiter, ein altbekannter, wohl Obdachloser kauerte in sich gesunken, einsam und in entwürdigender Haltung auf der Erde, buckelte und bettelte Passanten an, vor sich ein ranziger Hut, auch schon einige Münzen drin. Ich weiß, er muss da nicht so sitzen und betteln, es gibt genügend Hilfsstellen auch in Paderborn, an die er sich wenden könnte. Er will das aber so, dann soll er das so weiter machen. Ich habe ihm gesagt, steh auf Mann, lass Dich nicht so hängen, hör auf, Dich selbst zu bemitleiden, lass Dir helfen. Er ließ nichtmls mit sich reden, ich ließ in sitzen. Er will das ja so.
Weitere Schritte weiter, ein junger Mann im Rollstuhl, der viel zu leise sang und Gitarre spielte. Sang- und klanglos ging ich meines Weges, mein letzter Blick verschwand im Gitarrenkoffer vor ihm, der noch reichlich Platz für Münzgeld bot.
Und dann kam der vielleicht gerade zehnjährige Junge, der auf seiner Posaune noch recht schief und wackelig Weihnachtslieder in den Abendhimmel schmetterte. Er hatte seine Übungsstunde nach draußen verlegt und wohl heraus bekommen, dass sich gut bezahlte Übungs-Überstunden verdammt gut anfühlen. Sein Instrumentkoffer lief fast schon über mit Geldmünzen in allen Größen und Farben. Ich dachte nur so für mich: Oh, Du segensreiche Weihnachtszeit!!!!